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Sexueller Missbrauch: Kentler-Experiment wird bundesweit aufgearbeitet

Berliner Kinder aus schwierigen Verhältnissen wurden an pädosexuelle Männer vermittelt. 

Berlin – Das Wirken des einstigen Professors für Sozialpädagogik Helmut Kentler wird nun auch bundesweit aufgearbeitet. Das hat die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) auf ihrer Sitzung am Donnerstag beschlossen. Die Bundesländer wurden aufgefordert, eine bundesweite und unabhängige Untersuchung zu unterstützen. Berlin hatte mit dieser Aufarbeitung schon begonnen und schon zwei Opfer entschädigt.

Das Experiment geht auf den Sozialwissenschaftler Helmut Kentler zurück. Es wurde jahrzehntelang bis in die 2000er-Jahre hinein durchgeführt. Dabei wurden pädosexuelle Männer als Pflegeväter für Kinder aus schwierigen Verhältnissen eingesetzt. Die Kinder sollten demnach von der Zuwendung der Männer profitieren. Berlin war dabei der Initiator. Die Senatsverwaltung für Jugend und Familie finanzierte mehrere Pflegestellen bei Pädosexuellen. Bis heute ist unklar, wie viele Opfer das Kentler-Experiment gefordert hat, da die Unterlagen nicht vollständig vorliegen.

Berliner Jugendämter haben Kinder an Männer vermittelt

Der Berliner Senat teilte am Donnerstag mit, Berlin habe sich in den vergangenen Jahren die Aufarbeitung von Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe zur Aufgabe gemacht und zwei Forschungsprojekte initiiert und gefördert. Der Abschlussbericht der  Universität Hildesheim wurde im Juni 2020 der Öffentlichkeit vorgelegt. „Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass es ein Netzwerk von Akteuren gab, das pädophile Positionen gestärkt und legitimiert hat. Pädophile Übergriffe wurden in unterschiedlichen Konstellationen nicht nur geduldet, sondern auch arrangiert und gerechtfertigt“, heißt es in einer Mitteilung.

Die Veröffentlichungen des Forschungsteams legten zudem auch Verbindungen zu Jugendämtern in Westdeutschland sowie zu wissenschaftlichen Institutionen und Fachgesellschaften bezüglich der Unterbringung von Pflegekindern bei Sexualstraftätern nahe, hieß es weiter. Laut Bericht der Uni Hildesheim „wurden ab den 1970er Jahren durch das Berliner Landesjugendamt und die Bezirksjugendämter auch Pflegestellen in Westdeutschland bei alleinstehenden Männern eingerichtet, die pädophile Positionen akzeptiert, gestützt und praktiziert haben.“

Bildungssenatorin Sandra Scheeres erklärt: „Der Fall Kentler ist noch nicht abgeschlossen. Mit Blick auf ein mutmaßliches Netzwerk und bundesweite Bezüge besteht ein weiterer Aufarbeitungs- und Forschungsbedarf. Deshalb habe ich ein drittes Forschungsprojekt bei der Universität Hildesheim in Auftrag gegeben mit der Aufgabe, eventuelle bundesweite Verflechtungen zu untersuchen.“

Carsten Stahl: Personelle Konsequenzen für alle Beteiligten 

Präventionscoach und Anti-Gewalt-Trainer Carsten Stahl (Freie Wähler) begrüßte den Beschluss zur bundesweiten Aufklärung am Donnerstag. Er fordert seit längerem „eine bundesweite und lückenlose Aufklärung des Kentler Experiments in Berlin und bundesweit“. Allerdings sei der jetzige Beschluss nur „der erste Schritt auf einem langen Weg“. Stahl sagte der Berliner Zeitung am Donnerstag, er fordere „eine Entschädigung aller betroffenen und missbrauchten Personen, also den Kindern von damals“.

Und weiter: „Sollten noch Verantwortliche dieses Experiments und der Vermittlung der Kinder in die Obhut der behördlich bekannten pädophilen Pflegepersonen in Ämtern, Behörden, oder dem Berliner Senat tätig sein, fordere ich personelle Konsequenzen für alle beteiligten Personen.“ Zudem verlangt Stahl „eine offizielle und öffentliche Entschuldigung durch den Berliner Senat und seine Verantwortlichen für diese Taten und für das Leid der Betroffenen dieses menschenverachtenden Experiments in Berlin“.

Sandra Scheeres: Bei allen Betroffenen entschuldigt

Senatorin Sandra Scheeres weist Stahls Behauptungen entschieden zurück: „Wir haben uns mehrfach bei den Betroffenen für die Verbrechen in öffentlicher Verantwortung entschuldigt und Entschädigungen gezahlt. Mit dem Beschluss der JFMK von heute wird der Fall nun auch bundesweit aufgearbeitet.“

Artikel der Berliner Zeitung vom 06.05.2021

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